Aus gegebenem Anlass

Lange, lange bevor ich da, wo ich herkomme, überhaupt war, war da, wo ich herkomme, Fussball ganz groß.
Als ich, und auch das ist einige Zeit her, in einem deutschen Klassenzimmer saß, als Gast und vermutlich vierzehn, hat man mich das erste mal gefragt, wie es denn dem ungarischen Fussball zur Zeit so ginge. Ich meine, es war ein Mathelehrer, möglicherweise Chemie. Ich habe dem Mann geantwortet und bildete dabei einen Satz mit „wir“. Damit wurde ich schlagartig zum statuierbaren Exempel und durfte lernen, dass man sich hierzulande nicht identifiziert mit Fußball oder einem Volk oder Land. Sich nicht, mich schon. Schon damals hatte ich eine Ahnung, dass mir ein Stück lebenswichtige Information fehlt in diesem Zusammenhang. Dann war ich aber so abgelenkt von wichtigeren Dingen, dass ich das alles wieder vergaß. Geblieben ist: Erst das Wasser, dann die Säure, sonst passiert das Ungeheure. Es wird doch der Chemielehrer gewesen sein.

Als ich dann sehr viel später nicht mehr Gast war, sondern waschechter Neozoon, da kam die Sache, von der ich hätte wissen müssen, mir ein zweites Mal entgegen. Da stand einer vor mir und sagte „Weißt Du noch, ’54?“.
Wenn man, wie ich, nicht weiß und ausserdem knapp dreißig Jahre später auf die Welt kam, dann verneint man und versucht dem wahrscheinlich harmlosen Irren nicht direkt in die Augen zu sehen. Sicher ist sicher.
„’54! Der Wunder von Bern!“  „Welches Wunder?“ Dann bekam ich es erklärt und es gab ein großzügiges Bad in wir und euch. Ich hatte das fehlende Puzzleteil und verstand plötzlich, warum ich bis dahin nichts verstand.

Zu Ihrer Information: Das WM-Endspiel von 1954, das Sie meinen, wenn Sie „das Wunder von Bern“ sagen, ist in Ungarn nicht unter diesem Namen bekannt. In Ungarn ist dieses Ereignis ganz und gar namenlos. Dafür gibt es andere Dinge, die ich sagen kann, Sie aber nicht. Nur nicht so viele. Dinge wie: Jön a húsvét, jön a nyúl, magyar – angol három – null. Zu Deutsch, so in etwa: Osterhase vor der Tür, Ungarn-England drei zu nüll.
Da das Scheitern großer Unterfangen (um ein Haar) den innersten Kern ungarischer Identität bildet, sind die Ungarn keinem böse. Ausser dem Regen und den Schuhen. Dem Regen und den Schuhen kann man nicht so richtig böse sein, wer damit nicht zufrieden ist, muss Regen und Schuhe also übersetzen in Gott und die Sowjetunion und dann böse sein. Das kann man wiederum gut.

Beim Fussball ist ab und an die Rede von einem Goldenen Jahrgang. Von Mannschaften, bei denen alles stimmt (minus Regen und Schuhe), die nicht aufzuhalten sind (minus Regen, Schuhe), die ungeschlagen durch alle Wettkämpfe ziehen bis Regen, Schuhe, hohes Alter, Gott oder die Sowjetunion der Sache ein Ende machen.

Die Goldenen Jahrgänge der Ungarn scheinen regelmäßig ein jähes und endgültiges Ende zu nehmen. 955 schlug Otto der Große den Goldenen Jahrgang ungarischer Reiter, der davor durch Europa und ins Vaterunser hinein gezogen war, auf dem Lechfeld bei Augsburg. Obwohl die ungarischen Reiter, wie 1954 die Fussballnationalmannschaft, bis zum heutigen Tag Goldene Mannschaft genannt, in der Vorrunde deutlich überlegen waren, machte Otto, dass sie nach Hause fahren. Otto ist übrigens schuld daran, dass wir die Reihe Schuhe, Regen, Gott, Sowjetunion mit hinterhalt im Wald ergänzen müssen.

Eines sollten Sie trotzdem wissen. Immer wenn Sie durch eine Drehtür gehen und sich fragen ob die Person vor Ihnen dieselbe ist, die eben noch hinter Ihnen war und leicht verdutzt dastehen: das waren wir. Wir sind Legion. Alle Jahrgänge pures Gold.

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4 Antworten to “Aus gegebenem Anlass”

  1. vilmoskörte Says:

    Wunderbar.

  2. lokalreporter Says:

    Ferenc Puskás!

    • Mutzi H. Europa Says:

      Auch der heißt in Ungarn anders: Puskás Öcsi (Öcsi ist ein kleiner Bruder und aus irgendeinem kühlen Grunde ein Kosename für Menschen, die sonst Ferenc heißen).

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